Obwohl
sie von den Oktober- und Märzrevolutionen 1917 überschattet wird war
die Russische Revolution von 1905 von enormer Bedeutung für die
Internationale Arbeiter*innenbewegung; sie ist und bleibt die erste
große proletarische Erhebung, deren Form und Kampfmittel sich als für
das 20. Jahrhundert prototypisch erweisen sollten, und seitdem.in den
verschiedensten Aufständen bis zum heutigen Tagimmer wieder zu
beobachten sind. Mit „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“ ist Rosa
Luxemburg eine zeitlose Analyse dieser Wegweisenden Massenbewegung
gelungen. Neben Trotzkis „Ereignisse und Perspektiven“ ist es
wahrscheinlich der wichtigste Text zu diesem Thema.
Während Trotzki
vor Allem die Kräfteverhältnisse der Klassen in Russland analysiert,
daraus die Theorie der Permanenten Revolution entwickelt und auf geniale
Weise den Verlauf der Ereignisse von 1917 vorzeichnet, gelingt
Luxemburg in „Massenstreik“ jedoch etwas ganz anderes: Obwohl nominell
eine Aufarbeitung v.A. des Streiks als politischem Kampfmittel für die
Arbeiter*innenbewegung behandelt Rosa Luxemburg auf brilliante Weise
eine ganze Kolonne der brennendsten Debatten über sozialistische Taktik;
und das im Eiltempo (aber dennoch sehr anschaulich), anhand des
vorliegenden Exempels der leibhaftigen Revolution in Russland.
Luxemburg lässt die Ereignisse für sich sprechen, rechnet aber genau
dadurch fast nebenbei mit Syndikalisten, Gewerkschaftsfunktionären,
Reformisten und Parteibürokraten ab und zeigt elegant, wie sehr die
praktischen Erfahrungen der Bewegung die ganzen typischen
Binsenweisheiten, Vorurteile, und Denkschablonen widerlegen. Dabei wird
deutlich, dass (echte) marxistische Theorie selbst eben keine
Denkschablone oder Vorurteil darstellt, sondern sich aus einer ganz
nüchternen Analyse der Geschichte ableitet.
Auch nach mehr als 11
Jahrzehnten hat „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“ jedoch nichts
an Aktualität eingebüßt. Im Gegenteil: fast alle hierin widerlegten
Hirngespinste und Binsenweisheiten spuken auch heute noch in den Reihen
der Arbeiter*innenbewegung und der politischen Linken umher, in
vielerlei Hinsicht stärker als je zuvor. Umso wertvoller also die
Lektüre und Rezeption des vorliegenden Textes—die aufgeworfenen Debatten
sind heute so lebendig wie sie es 1906 waren.
Wertvoll ist auch,
dass der Text eine sehr seltene Veranschaulichung davon gibt, wie
Klassenbewusstsein sich im Verlauf von bestimmten Ereignissen und
Perioden entwickelt kann, sich wandelt und welche Auswirkungen dieses
Bewusstsein wiederrum auf den Lauf der Ereignisse hat. Dabei wird
deutlich, was für ein bedeutender Faktor das Klassenbewusstsein einer
Bevölkerung tatsächlich ist.
Doch noch einen anderen, vielleicht
noch wichtigeren Nutzen können wir aus diesem Pamphlet ziehen: Denn Rosa
Luxemburg beschreibt hier auf sehr verständliche Art Ablauf und
Hintergrund einer realen Revolutionären Bewegung. Einer Reihe von
Ereignissen also, die für Sozialistinnen den wichtigsten (und
umstrittensten) Schritt auf dem Weg zu ihrem politischen Endziel
darstellen; die aber aus Mangel an sichtbaren Exempeln wohl in den
Köpfen der meisten Aktivist*innen zu einer reinen Utopie geworden ist.
Dass aber eine soziale Revolution keine Utopie ist, sondern ein sehr
realer historischer Moment dessen Potential sehr wohl in jeder
kapitalistischen Gesellschaft schlummert; dass dieser Moment (auf
durchaus vorhersehbare Weise) aus den vorherigen Momenten hervorgeh–und
seien sie auch noch so bleiern und scheinbar unbeweglich–diese
wichtige Erkenntnis lehrt uns Rosa Luxemburg. Der Mythos Revolution wird
hier vom Mythos zum lebendigen historischen Ereignis.
In Zeiten,
in denen, Massenproteste die Französische Regierung unter Druck setzen,
wo in den USA und China plötzlich landesweite Streikwellen auftreten,
der 8. März in einem Land wie Spanien Massenhafte Arbeitsniederlegungen
sieht, und in denen Iranische Arbeiter*innen Räte gründen, die Kontrolle
über ihre Fabriken einfordern und ihre Jahrzehntealte Autokratische
Elite damit ins Wanken bringen: in solchen Zeiten ist es an der Zeit,
Rosa Luxemburgs Lektionen endlich wieder ernsthaft zu studieren!
Wer Lust hat, dieses Werk von Rosa Luxemburg mit uns zu diskutieren, der sollte kommenden Sonntag ab 17:30 Uhr in die LGS in der Gärtnergasse 24 kommen.